Quantitative Sozialforschung
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Online-Experimente im interkulturellen Kontext

Die Identifikation kultureller Prägungen menschlichen Verhaltens ist in der empirischen Sozialforschung mit entscheidenden Herausforderungen verbunden. Neben dem methodischen Problem mangelnder funktionaler Äquivalenz sind Kultureffekte selten eindeutig von Einflüssen institutioneller Rahmenbedingungen zu unterscheiden. Als Reaktion auf letztere Problematik haben sich verschiedene Designs etabliert, welche Individuen mit diversen Prägungen in einem einheitlichen institutionellen Arrangement betrachten: Beispielsweise werden Verhaltensweisen von speziellen Populationen (Diplomaten, Sportler) aus unterschiedlichen Herkunftsländern in einer identischen Zielumgebung untersucht. In den letzten 20 Jahren wuchs darüber hinaus das Interesse, kulturelle Differenzen im menschlichen Verhalten mit experimentellen Methoden zu untersuchen. Typischerweise werden hierzu Laborexperimente in verschiedenen Ländern oder Regionen durchgeführt, um anschließend die Werte einer Zielvariable (z.B. Fairnessverhalten, Sanktionsverhalten, Kooperationsraten) über die verschiedenen Untersuchungsgebiete hinweg zu vergleichen.

Üblicherweise steht dabei die Untersuchung von Normbefolgung innerhalb eines variierten kulturellen Kontextes im Vordergrund, wobei menschliches Verhalten in Entscheidungssituationen wie dem Diktatorspiel (DG), dem Ultimatumspiel (UG) und dem Gefangenendilemma (PD) betrachtet wird. Im DG kann ein Betrag mit einem anderen Probanden geteilt werden (Fairnessverhalten), im UG können Aufteilungsangebote darüber hinaus abgelehnt werden (Sanktionierungsbereitschaft) und im PD geht es um soziale Kooperation. In allen drei Entscheidungssituationen weicht das sozial erwünschte (DG, UG) oder pareto-optimale (PD) Handeln von einer individuell attraktiveren Alternative (Nash-Gleichgewicht) ab.

Ein solches Unterfangen an verschiedenen Untersuchungsorten umzusetzen bleibt zwangsweise problembehaftet. Eine stichhaltige Identifikation kultureller Einflüsse auf das untersuchte Entscheidungsverhalten erfordert ein vollständiges Konstanthalten aller Rahmenbedingungen. Diese umfassen den Rekrutierungsprozess der Teilnehmer, die physischen Laborbedingungen, den Experimentalleiter selbst, die verschrifteten Experimentalanweisungen sowie die typischerweise aus Validitätsgründen eingesetzten monetären Anreize. Diese Feinheiten laborexperimenteller Designs werden in interkulturellen Versuchsanordnungen leider allzu oft vernachlässigt. Folglich dominieren in der experimentellen Forschungsliteratur vorschnelle Interpretationen vermeintlicher kultureller Unterschiede, sobald Differenzen in den absoluten Werten interessierender Zielvariablen oder in den Reaktionen auf bestimmte Stimuli beobachtet werden.

Diese durch methodische Defizite entstandene Forschungslücke schließen wir mit einem Online-Experiment im interkulturellen Kontext. Die von Amazon betriebene Crowd-Sourcing-Plattform Mechanical Turk (MTurk) bietet hierfür eine geeignete Infrastruktur. MTurk wurde zur Bearbeitung von schwer automatisierbaren Aufgaben (z.B. Kategorisierung von Bildern) entwickelt. Dort eingestellte Aufgaben können von registrierten Teilnehmern gegen Entlohnung bearbeitet werden. 2011 wurden über eine halbe Millionen Teilnehmer aus 190 Staaten gezählt; mehrheitlich stammen die Teilnehmer jedoch aus den USA und aus Indien. Unsere Analysen beschränken sich daher auf diese beiden Länder.

Die Gestaltung der Aufgaben lässt Befragungen und experimentelle Designs zu, sodass die Plattform auch für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden kann. Neben allgemeinen methodischen Vorteilen, die die externe Validität von Experimenten betreffen (realer Arbeitsmarkt, nicht-studentische Teilnehmer), ergeben sich entscheidende Vorzüge in Bezug auf die hier verfolgte Fragestellung: Aufgrund des vorhandenen Teilnehmerpools entfällt der Rekrutierungsprozess, der bei bisherigen interkulturellen Experimenten über Untersuchungsorte hinweg nur schwer homogenisiert werden konnte. Die Online-Plattform garantiert einen einheitlichen Rahmen der Experimente, da keine physischen Labore verwendet werden müssen. Entsprechend können auch Experimentalleitereffekte ausgeschlossen werden. Englisch gilt als Geschäftssprache der Plattform, sodass Experimentalanweisungen für eine interkulturelle Verwendung nicht übersetzt werden müssen. Eine zentrale Schwierigkeit methodischer Äquivalenz stellt allerdings die Homogenisierung der monetären Auszahlungen für die zu bestreitenden Entscheidungsspiele DG, UG und PD dar. Unsere Lösung ist die Gewichtung der Spielanreize entlang von Kaufkraftunterschieden zwischen den beteiligten Ländern: Um US-Amerikanern und Indern gleichwertige Belohnungen auszuzahlen, wird Indern beispielsweise ein Betrag im Gegenwert von 1,60 Dollar geboten, wenn es für US-Amerikaner um 4 Dollar geht. So lassen sich Fairness-, Sanktions- und Kooperationsverhalten valider als in bisherigen Studien interkulturell vergleichen. In zusätzlichen Untersuchungsbedingungen prüfen wir, ob US-Amerikaner und Inder in ähnlicher Weise auf Erhöhungen der Spielanreize reagieren.

Projektteam: Marc Keuschnigg, Felix Bader