Quantitative Sozialforschung
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Texte 21 bis 30

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Text Nr. 21

Hier nun die meiner Ansicht nach "zentralen Erkenntnisse" der Soziologie (ein Begriff, dessen Operationalisierung nicht ganz unproblematisch ist):

1. Das Thomas-Theorem von der Definition der Situation (Thomas/Thomas 1928)

M.E. ist dies das zentrale Theorem der Soziologie schlechthin, an dem die Herstellungssystematik von Gesellschaft in einer Verkettung konsequenzenträchtiger Situationsdefinitionen auf den Punkt gebracht wird. Klar wird darin auch die zentrale Rolle der Handelnden als Interpreten der von ihnen wahrgenommen Situationen - und zwar noch vor jeder theoriestrategischen Entscheidung über den Zusammenhang von Handeln und Struktur sowie von Mikro- und Makrobenen von Gesellschaftlichkeit.

2. Das von Mead entwickelte Vergesellschaftungs- und Individuierungsmodell von Me, I und Self in Verbindung mit dem Modell des signifikanten und des generalisierten Anderen.

Dieses Modell ist das zentrale Element jedes interaktionstheoretischen Zugangs zu Gesellschaft und Individuum. Es enthält Erklärungsleistungen, die deutlich über die Angebote andere Klassiker wie Weber, Simmel oder Durkheim hinausgehen und die heute noch Geltung beanspruchen können.

3. Die von Alfred Schütz geprägte Grundidee der Fundierung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis in den Sinnzusammenhängen des Alltagsdenkens (Konstruktionen erster und zweiter Ordnung, Reziprozität der Perspektiven,  ...).

Ein Grundstein jeder wissenssoziologischen Thematisierung von Sozialität. Schütz bringt hier die Soziologie auch methodisch einen entscheidenden Schritt voran, wenn er wissenschaftliches Wissen und seine Erzeugungsprozesse von metaphysischen Überhöhungen befreit und aufweist, dass auch Wissenschaftlern bei der Wissenserzeugung kein grundsätzlich anderer Wirklichkeitszugang zur Verfügung steht als der über den Menschen im Alltag verfügen.

4. Mannheims dokumentarische Methode.

Die methodische Idee der Einklammerung von Geltungsansprüchen und der analytisch-interpretativen Orientierung auf den Dokumentsinn ist grundlegend für alle Versuche der Rekonstruktion von sozialen Erzeugungsprozessen und ihren Regelhaftigkeiten. Die soziologischen Konsequenzen dieses ursprünglich eher geisteswissenschaftlichen Gedankens werden brillant verdeutlicht in Garfinkels Entwurf einer Ethnomethodologie. Zugleich lebt der methodische Gehalt Mannheims in Harvey Sacks Konversationsanalyse ebenso fort wie in der in Deutschland häufig verwendeten Dokumentarischen Methode Bohnsacks.

5. Robert Ezra Parks Aufforderung zu einer empirischen, ethnographisch ausgerichteten Soziologie moderner Gesellschaften ("Go and sit in the lounges of the luxury hotels and on the doorsteps of the flophouses...").

Die "Erfindung" der soziologischen Ethnographie als einer eigenständigen Methoden der Erforschung der eigenen Gesellschaft.


Text Nr. 22nach oben Werner Raub, Universität Utrecht

Zunächst ein Hinweis auf den roten Faden beim Folgenden. Es scheint mir vernünftig, Erkenntnisse in fünf Feldern zu unterscheiden: (1) Metatheorie, (2) Theorie, (3) Hypothesen, (4) empirische Erkenntnisse, (5) Methoden. Möglicherweise ist diese Einteilung generell nützlich für das Projekt. Im Folgenden nenne ich für jedes Feld eine m.E. zentrale Erkenntnis.

Erstens - Metatheorie: Soziale Bedingungen und soziale Konsequenzen lassen sich analysieren (erklären) mit Hilfe von Annahmen über anreizgerichtetes Handeln, wobei unintendierte (und häufig auch für die Betroffenen ungünstige) soziale Folgen ein zentraler Gesichtspunkt sind.

Zweitens - Theorie: Explizite Spezifikation von Bedingungen, unter denen das Hobbessche Ordnungsproblem durch endogene Kooperation langfristorientierter rationaler Egoisten gelöst wird.

Drittens - Hypothese: "Strength of weak ties", broadly conceived ("structural holes" ist eine nützliche nähere - aber auch spätere - Spezifikation).

Viertens - empirische Erkenntnis: Befunde über soziale Vergleichsprozesse und relative Deprivation.

Fünftens - Methoden: Hier bin ich zwiespältig und zweifle zwischen zwei Optionen. (a) Umfrageforschung und (b) Durchbrüche im Hinblick auf die Integration theoretischer und statistischer Modelle (wobei die theoretischen Modelle natürlich Modelle der Soziologie sind), also z.B. Mehrebenen-Analyse, SIENA u.ä. (ich nenne random utility-Theorie als solche nicht, um den Verdacht zu vermeiden, dass die Soziologie sich auf Erkenntnisse von Ökonomen zurückzieht).


Text Nr. 23nach oben Joachim Hofmann-Göttig, Universität Koblenz-Landau

Meines Erachtens gibt es "die Soziologie" nicht (mehr). Es gibt nur die spezialisierte "Binde-Strich-Soziologie".

Insoweit kann ich nur Erkenntnisse aus jenen Teildisziplinen beisteuern, in denen ich mich betätige:

  1. Empirische Sozialforschung: Prüfe vor der Interpretation, ob der zu interpretierende Sachverhalt tatsächlich zutrifft. Arbeite methodisch so wissenschaftlich zuverlässig, dass empirisch gewonnene Erkenntnisse tatsächlich zur Veränderung Deiner eigenen Einstellung führen. Du kannst andere mit den Ergebnissen Deiner Forschung nur überzeugen, wenn Du bereit bist, eigene Auffassungen zu falsifizieren.
  2. Politische Soziologie: Wähler werden mobiler und daher tendenziell immer weniger prognostizierbar. Täusche die Rezipienten Deiner Prognosen nicht über die tatsächlichen Fehlermargen.
  3. Kultur-Soziologie: Kultur gehört zum Menschen wie Essen und Trinken. Soziologie hat die Aufgabe, den Menschen dies bewusst zu machen.
  4. Bildungs-Soziologie: Der Umbau des Bildungssystems zur Steigerung der Leistungsfähigkeit der Individuen, des Systems und der Gesellschaft ist eine zentrale Überlebensfrage unserer Gesellschaft.

Text Nr. 24nach oben Werner Schneider, Universität Augsburg

Wie nach kurzer telefonischer Rücksprache (mit Herrn Ganser) besprochen, übersende ich hiermit drei -- aus meiner Sicht -- "fundamentale Erkenntnisse bzw. Einsichten", die eine soziologische Perspektive auf menschliches Handeln offengelegt bzw. deutlich gemacht hat. Selbstverständlich ließen sich noch weitere Beispiele finden, die ebenso zeigen würden: vieles, was uns im Alltag als 'gegeben' erscheint, offenbart der soziologische Blick als gesellschaftlich konstruiert und formiert, damit als prinzipiell kontingent und folglich -- weil de-ontologisiert -- auch als gestaltbar (alle drei Beispiele weisen m.E. in diese Richtung):

1) Entgegen der bis heute vorherrschenden Sichtweise, nach der Geld primär und vor allem als 'neutrales Zahlungsmittel' mit ausschließlich ökonomischer Relevanz betrachtet wird, zeigt die Soziologie (von Simmel über Luhmann bis hin zu neueren empirischen Forschungen), dass Geld vor allem als soziales Phänomen zu verstehen ist. Die Soziologie des Geldes erschließt Geld als Mittler sozialer Beziehungen und in diesem Sinne vor allem als sozial(!) wirksam in seinen vielfältigen symbolischen Bezügen und Wertigkeiten.

2) Nicht nur die Soziologie allein, aber auch sie hat die kulturelle Variabilität des spezifischen Zusammenlebens der Geschlechter- und Generationen, welches in der Regel 'naturalisiert' mit 'Familie' umschrieben wird, deutlich gemacht und damit die gesellschaftliche Bedingtheit von 'Liebe', Paarbeziehung, Elternschaft etc. ins gesellschaftliche Bewußtsein ehoben.

3) Anders als das Alltagswissen nahelegt, zeigt die Soziologie, dass nicht nur die Formen menschlichen Zusammenlebens, sondern sogar die Grenzen menschlichen Lebens selbst -- Lebensbeginn und Lebensende -- keinesfalls als einfach gegebene biophysiologische Phänomene zu gelten haben, über die 'wissenschaftlich gesichert' nur Biologie und Medizin Auskunft geben können. Vielmehr handelt es sich um gesellschaftlich prozessierte, gemäß den je vorherrschenden kulturellen Vorstellungen ausgestaltete Grenzziehungen bzw. Grenzpraktiken.
Konkret zeigt z.B. die thanatosoziologische Empirie, dass Sterben nicht einfach ein sich vollziehender biophysiologischer Vorgang ist, sondern in jeder Kultur umfassend gesellschaftlich organisiert wird: Das Sterben eines Menschen vollzieht sich (bis hin zu seinem Tot-Sein) immer im Rahmen der für die jeweils Beteiligten gegebenen sozialen Bezüge und institutionellen Kontexte sowie entlang der je vorherrschenden gesellschaftlichen Normen und Leitvorstellungen zu Sterben und Tod. Und so ist es nicht der biophysiologische Prozess des Sterbens im engeren Sinn, der die Wirklichkeit des Sterbenden bestimmt, sondern die jeweilige gesellschaftliche Organisation von Sterben und Tod, in der sich dieser Prozess vollzieht.


Text Nr. 25nach oben

Erklärung von Kriminalität

Noch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Kriminalität durch biologische Faktoren erklärt. Die Thesen von Cesare Lombroso (1835-1909) über den geborenen Verbrecher sind ein Beispiel. Die Schriften des Soziologen und Kriminologen Edwin H. Sutherland wie z.B. seine Theorie differentieller Kontakte (1924) und auch die Anomietheorie in der Version von Robert K. Merton, einschließlich vieler empirischer Untersuchungen z.B. über die Struktur und Wirkungen von Gefängnissen (Donald Clemmer und Gresham Sykes), haben gezeigt, dass Kriminalität systematisch mit sozialen Sachverhalten zusammenhängt.

Unbeabsichtigte Folgen sozialen Handelns

Alltagserklärungen gehen davon aus, dass soziales Handeln dadurch zu erklären ist, dass Individuen bestimmte Ziele haben, die zu sozialen Veränderungen führen. Beispiele sind die Programme politischer Parteien oder unternehmerische Planungen. Bereits die Klassiker des ökonomischen Denkens wie die schottischen Moralphilosophen (etwa Adam Smith), aber auch Soziologen wir Robert K. Merton (siehe z.B. seine Idee der latenten Funktionen) haben gezeigt, wie groß die Rolle von unbeabsichtigten Folgen sozialen Handelns ist. Dabei hat sich vor allem gezeigt, wie groß der Umfang der sozialen Tatbestände ist, die nicht durch bewusste menschliche Gestaltung zu erklären sind.

Offene Gesellschaft und Mobilität

Chancengleichheit und offene Gesellschaften – so dürfte eine früher verbreitete Meinung gewesen sein – haben die Konsequenz, dass sozialer Aufstieg sozusagen grenzenlos ist und nicht durch die soziale Herkunft bedingt ist. Viele soziologische Untersuchungen über Mobilität haben das Gegenteil gezeigt (z.B. Lipset und Bendix 1963). Sozialer Aufstieg hängt sehr stark ab vom Beruf und der Ausbildung der Eltern.

Die Verhinderung fundamentaler Erkenntnisse durch die Soziologie

In der Wirtschaftswissenschaft und zum Teil auch in der Politikwissenschaft wurde überzeugend dargelegt, dass soziale Phänomene als Ergebnis individuellen Handelns erklärt werden können. Pioniere dieses Erklärungsansatzes sind die bereits erwähnten schottischen Moralphilosophen, in der Soziologie vor allem George C. Homans. Der soziologische Funktionalismus (z.B. Talcott Parsons) und das Programm Emile Durkheims, der Marxismus und die moderne Systemtheorie bleiben dagegen auf der Makroebene. Solche kollektivistischen Programme ignorieren, dass Makro-Phänomene – etwa Revolutionen – auf der Grundlage individuellen Handelns erklärt werden können.


Text Nr. 26nach oben Nina Degele, Universität Freiburg

Fundamentale Erkenntnisse der Soziologie

  1. Identität ist ein durch und durch gesellschaftliches Produkt, es gibt keinen vorsozialen, privaten Anteil. Diese Erkenntnis im Anschluss an Mead erlaubt es, Phänomen wie Liebe, Schmerz, Sich-schön-machen nicht als Ausdruck gesellschaftlich unkomtaminierter Individualität und Einzigartigkeit zu begreifen, sondern als gesellschaftliche Positionierung.
  2. Was sich differenzieren lässt, ist auch hierarchisierbar. Wie das am Beispiel Geschlecht funktioniert, hat Angelika Wetter historisch anhand von Professionalisierungsprozessen (die halbherzige Öffnung der ärztlichen Profession für Frauen) und des "Wechsels des Geschlechts" etwa bei Sekretären/Sekretärinnen gezeigt - was die (männlich dominierte) Soziologie bislang nie entsprechend gewürdigt hat.
  3. "Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin." Strukturen existieren durch Handlungen, und Handlungen machen Strukturen. Die praxeologisch-konstruktivistische Einsicht auf Grundlage der Arbeiten von Berger/Luckmann, Giddens und Bourdieu fordern TheoretikerInnen wie auch EmpirikerInnen dazu auf, über den eigenen (Schulen)Tellerrand zu schauen und unterschiedliche Perspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen.
  4. (Natur)wissenschaftliche Erkenntnis ist weniger ein Prozess systematischer und rationaler Wahrheitsfindung als ein Basteln (Knorr-Cetina, Latour/Woolgar), wo es um die illusio des wissenschaftlichen Feldes (Bourdieu) und die Verteidigung von Territorien im Rahmen von Machtkämpfen geht.
  5. Betrachtet man alltägliche Begrüßungen, Oben-ohne-liegen-am-Strand, Klatsch, Fahrstuhlfahren oder die Zuordnung von Männern und Frauen ethnomethodologisch, entpuppen sich diese nicht als spontane, zufällige oder "natürliche" Praxen, sondern als gesellschaftlich geregelte und solches rekonstruierbare Herstellung und Sicherung sozialer Ordnung.

Text Nr. 27nach oben

Meiner Meinung nach sind die wichtigsten Errungenschaften der Soziologie in den folgenden Begrifflichkeiten zu identifizieren:

  • differenzierter Begriff der sozialen Wechselwirkung;
  • Begriff der Rollen-und-Status-Sätze
  • die differenzierte Begrifflichkeit der sozialen Systeme, vor allem des sozietalen Systems:
  • Begriff der manifesten und latenten Funktionen des sozialen Handelns; 
  • die Begrifflichkeit der globalen sozialen Trends.

Text Nr. 28nach oben

  1. Karl Mannheims Vorschlag, politische Weltanschauungen wissenschaftlich exakt zu rekonstruieren, als bahnbrechende Untersuchung einer politischen Soziologie der Ideologien

    Quelle: *Mannheim, Karl* (1929) /Ideologie und Utopie/. Frankfurt/M.
  2. Max Weber's Abhandlung "Politik als Beruf", insbesondere seine von Georg Simmel übernommene Haltung der "Unaufgeregtheit" der Betrachtung; die in professionsethischer Hinsicht nach wie vorbildhaft ist.

    Quelle: *Weber, Max*; /Politik als Beruf/, in: Ders.: /Gesammelte Politische Schriften/ (herausgegeben vvon Johannes Winckelmann), 5. Aufl., Tübingen 1988, S. 505 bis 560
  3. T.H. Marshall's Aufsatz "Bürgerrechte und soziale Klassen" als Meilenstein einer politischen Soziologie des Wohlfahrtsstaats und der Zivilgesellschaft

    Quelle: Tom Bottomore, *T. H. Marshall:* /Citizenship and Social Class/. Pluto Press

neueren Datums:

  1. Karl Ulrich Mayer's empirisch gestützte Arbeiten zu einer "Political Economy of the Life Course", die eine politikwissenschaftliche Analyse bdes Wohlfahrtstaates mit der soziologischen Analyse von Lebenslaufmustern verbindet.

    Quelle: *Mayer, K. U*. (1997). /Notes on a comparative political economy of life courses/. In: Comparative social research, Vol. 16 (pp. 203-226). Greenwich, CT: JAI Press.
  2. Robert  D.  Putnams  Analyse der Bedeutung  lokalen Sozialkapitals für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft.

    Quelle: *Putnam, Robert D*. (1994) /Making Democracy Work. Civic Traditions in Modern Italy/. Princeton University Press*

Text Nr. 29nach oben Michael Baurmann, Universität Düsseldorf

Fünf fundamentale Erkenntnisse der Soziologie

1. Der dilemmatische Charakter menschlicher Kooperation

Begründung: Diese Erkenntnis macht deutlich, dass die Grundlage der menschlichen Gesellschaft und des menschlichen Zusammenlebens keine prästabilierte Harmonie ist, sondern im Gegenteil konfligierende Interessen und Ziele, die jede soziale Ordnung fragil und prekär machen.

2. Die soziale Einbettung menschlicher Kooperation

Begründung: Diese Erkenntnis zeigt, dass die Effizienz von Institutionen wie Märkten oder politischen Systemen nicht allein durch institutionalisierte Anreize gewährleistet werden kann, sondern dass soziale Normen, Kultur, Traditionen, soziales Kapital und Vertrauen eine wesentliche Rolle spielen.

3. Der Voraussetzungsreichtum von Rechtsstaat und Demokratie

Begründung: Diese Erkenntnis warnt davor, Rechtsstaat und Demokratie als Ergebnisse des "natürlichen Laufs der Dinge" zu sehen und fordert dagegen auf, die zahlreichen interdependenten Bedingungen zu erforschen, die notwendig sind, damit stabile rechtsstaatliche und demokratische Gesellschaften entstehen und sich erhalten können.

4. Die Vergeblichkeit umfassender Sozialtechnologie

Begründung: Diese Erkenntnis markiert eine grundsätzliche Grenze für die praktische Anwendbarkeit der Soziologie, denn die Reaktion auf sozialtechnologische Planung lässt sich nicht selber vollständig sozialtechnologisch planen.

5. Die Unveränderlichkeit der gesellschaftlichen Grundprobleme

Begründung: Die grundlegenden Probleme der menschlichen Gesellschaft haben sich nicht geändert, sie basieren auf dem dilemmatischen Charakter menschlicher Kooperation. Diese Erkenntnis sollte davor bewahren, die vielen modischen Etiketten für moderne Gesellschaften –  "Wissensgesellschaft", "Risikogesellschaft", "Erlebnisgesellschaft" – als tief greifende Analysen zu verstehen.


Text Nr. 30nach oben Baldo Blinkert, Universität Freiburg

Über Ihre originelle Anfrage habe ich lange nachgedacht und auch mit Kollegen darüber gesprochen.

Sie wollen wissen, was ich für die "wichtigsten Erkenntnisse" in unserem Fach halte. Ich habe das so interpretiert, dass es um "grundlegende Erkenntnisse" geht, also um Erkenntnisse, die zu neuen Weichenstellungen (neuen Paradigmen) Anlaß gegeben haben. Dazu fallen mir vor allem Erkenntnisse ein, für die unsere "Klassiker" verantwortlich sind. Damit will ich nicht sagen, dass es in der Gegenwartssoziologie nicht auch wichtige Erkenntnisse gibt, aber doch weniges, was "weichenstellenden Charakter" hat. Hier nun meine Vorstellungen:

  1. Die Untersuchungen von Emil Durkheim über den Selbstmord. Ich nenne die Selbstmord-Studie deshalb, weil dabei nicht nur die Idee entwickelt wird, dass es so etwas wie "soziale Tatbestände" gibt, sondern diese Idee auch in ein Forschungsprogramm umgesetzt wird. Das halte ich für wegweisend.
  2. Das "Kapital" von Karl Marx, das ich ohne zu zögern auch zur Soziologie rechne. Hier erscheint mir nicht nur die Thematisierung des Zusammenhangs von Ökonomie und gesellschaftlicher Organisation wichtig, sondern auch das dahinter stehende Engagement für eine gerechte und humane Welt.
  3. Wenn man Marx nennt, muß man auch Max Weber nennen: aus den gleichen Gründen aber auch, um einer anderen Perspektive gerecht zu werden. Für beide ist geltend zu machen, das Ringen um analytische Klarheit. Für Weber das Bemühen, eine komplexe Antwort auf die zentrale Frage nach den Entstehungsgründen für den okzidentalen Kapitalismus zu finden, das ihn zur Religions-, Rechts-, Herrschafts- und Stadtsoziologie geführt hat.

Nun möchte ich aber doch noch etwas aus der Gegenwartssoziologie benennen:

  1. Die Untersuchungen von Heinrich Popitz: seine anthropologisch fundierten Analysen zu einer Technikgeschichte als Universalgeschichte, die ihn hinführen zu einer Soziologie der "artifiziellen Gesellschaft".
  2. Die Untersuchungen von Pierre Bourdieu über die "feinen Unterschiede" und das dabei entwickelte Struktur-Habitus-Praxis-Theorem. In dieser Untersuchung sehe ich ein gutes Beispiel für die Verschränkung von theoretischer und empirischer Arbeit und natürlich sind die "feinen Unterschiede" von grundlegender Bedeutung für ein soziologisches Verständnis von Ungleichheit.

Es gäbe noch einige gegenwartssoziologische Arbeiten, die ein ähnliches "Kaliber" haben wie die Untersuchungen von Popitz und Bourdieu, aber ich soll mich ja auf fünf beschränken und deshalb: Schluß für heute.


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